Wenn diese Ausgabe von „Gemeinde Aktuell“ erscheint, dann ist das Jahr 2023 schon zu 16,2% vergangen. Ein bisschen spät, um sich mit der Jahreslosung zu befassen – oder nicht? Nein, ich finde, dieses Bibelwort sollte durchaus nochmals betrachtet werden.

Dieser Vers lautet ja: Und sie hieß den Namen des Herrn, der mit ihr redete: Du Gott siehst mich. (1. Mose 16, 13a – Luther, 1912) Ein Vers, der es durchaus „in sich hat“. Ich habe es in den letzten Jahren kaum erlebt, dass eine Jahreslosung so polarisieren kann. Warum ist das so?

Nun, wenn ich in die Straßenbahn einsteige, dann sind dort jede Menge Überwachungskameras, die mich im Blick haben. Genau das gleiche ist es in unseren neuen, unterirdischen Haltestellen. Gut, ich habe damit kein Problem, denn ich stelle ja nichts an. Im Gegenteil: Ich möchte, dass fragwürdige Zeitgenossen eben nicht unbemerkt bleiben und ihr Unwesen treiben können.

Ganz anders ist der Gedanke: Wenn jetzt bei mir zu Hause überall Kameras wären, über meinem Schreibtisch ebenso wie im Badezimmer – könnte mir das auch egal sein? Wie sieht das mit meiner Privatsphäre aus? Vor allem, wenn die Aufnahmen nie gestoppt werden – und nie gelöscht, sondern für alle Zeit aufbewahrt?

Hagar, die den Vers unserer Jahreslosung ausspricht, ist es klar geworden: Vor Gottes Augen können wir uns nicht verbergen. Aber sie spricht hier von einem Gott, der uns quasi „von außen“ im Blick hat. Schon dieser Gedanke ist den meisten Menschen so unheimlich, dass sie sich einen Gott mit so viel Überblick lieber nicht vorstellen wollen. — Die Bibel geht noch viel weiter! So heißt es: Hölle und Abgrund ist vor dem Herrn; wie viel mehr der Menschen Herzen! (Sprüche 15, 11) Das muss uns doch erst recht unbequem sein – oder nicht?!

Ein unbekannter Dichter schrieb vor Jahren die schönen Verse:

Wenn jeder hätt‘ an seiner Stirn
von Glas ein Fensterlein,
dahinter die Gedanken schwirr’n,
dass man könnt seh’n hinein:
Was gäb‘ das für ein wildes Laufen,
um matte Scheiben einzukaufen

Ja, die Bibel hat schon recht: Aber der Herr weiß die Gedanken der Menschen, dass sie eitel sind. (Psalm 94, 11) Und wenn uns diese Vorstellung unangenehm ist, dann doch nur deshalb. weil wir der Bibel Recht geben müssen! Wir können unseren Mitmenschen viel vorspielen; manchmal können wir uns auch selbst etwas einreden. Nur: Vor Gott scheitert jeder Versuch, uns als halbwegs gute Menschen darzustellen. Deshalb beunruhigt uns dieser Gedanke so sehr, darum wäre es Vielen am liebsten, es gäbe diesen Gott nicht, vor dem wir uns nicht verstecken können.

Und doch: Wie wunderbar! Gott weiß genau, wie wir sind, aber er schaut nicht aus Neugier auf uns herab oder um zu sehen, wie er uns unsere Verfehlungen bei der nächsten Gelegenheit auftischen kann. Hagar hat es erfahren: Mit Gottes genauem Hinschauen fängt sein Helfen an! Ihm ist an uns gelegen, er will uns aus der Misere helfen, in der wir ebenso feststecken wie Hagar in der Wüste.

Wenn wir begreifen, dass wir vor Gott nicht weglaufen können, aber auch gar nicht weglaufen müssen, dann kann uns die Jahreslosung durchaus zum Trostwort werden. Dann dürfen auch wir bekennen: „Du bist der Gott, der mich sieht – und zwar deshalb, weil ich Dir nicht egal bin und weil Du mir helfen willst.“ Wo ich auch bin: Es gibt Gott sei Dank keinen „gottverlassenen“ Ort, an dem er mich nicht sehen und mir begegnen könnte.